Statt-Abendlied 16


Das Netz ist nicht die straße

Liebe Familie, liebe Freundinnen, liebe Freunde,

welches Lied soll ich Euch heute am 1. Mai schicken – am 1. Mai 2020?

Eines der fröhlichen Mai-Volkslieder gesungen vom SDR-Kinderchor aus meiner Kinderzeit?

Eines der politischen Arbeiter-Mai-Lieder aus meiner Sturm-und-Drang-Zeit?

Welches hat einen Bezug zu heute und zu mir, welches verbindet Volkslied und Arbeiterlied, Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft und welches passt heute für mich?

Keine einfache Frage, die sich mir da heute relativ lange stellte. Auch noch nach vier völlig ungewohnten Online-Stunden bei einem DGB-Mai wie es ihn noch nie gab.

Entschieden habe ich mich für ein Lied, das ich in den späten siebziger Jahren kennenlernte, als die Arbeiter des Stahlkonzerns Usinor sich organisierten, weil im Lothringischen Bergbau 20 500 Arbeitsplätze innerhalb von zwei Jahren abgebaut werden sollten. Von ihnen hörte ich erstmals das Lied „Le chiffon rouge“, das sie über ihren freien Radiosender veröffentlichten.

Eigentlich war das Lied 1977 von dem Chansonnier Michel Fugain als Beitrag zu einer Jugendveranstaltung in der Stadt Le Havre geschrieben worden.

Bald wurde das Lied unter französischen Arbeitenden so bekannt und beliebt, dass es oftmals bei Versammlungen und Demonstrationen gesungen wurde. 

In der Coronazeit bin ich durch zwei ganz andere Hinweise aus Frankreich wieder auf das Lied gekommen: Der Erste war der Vorschlag eines Franzosen, gefährdete Menschen sollten ein rotes Tuch aus dem Fenster zu hängen, wenn sie Hilfe bräuchten, damit man weiß, dass man sich ihnen vorsichtig nähert, um sie nicht zu gefährden!?

Als zweites habe ich bei der Durchsicht von internationalen Pressemeldungen den Begriff gelesen „agiter le chiffon rouge“ und beim Nachschlagen als deutsche Bedeutung „Angst schüren vor etwas, mit dem Schreckgespenst, Panik verbreiten“ gefunden.

Das ist interessant – wir sagen „das ist mir wie ein rotes Tuch oder wie Spitzgras“ und meinen, das ärgert mich, das macht mich wütend. Im Deutschen klingt also die Provokation durch das rote Tuch ein wenig verhaltener und passiver.

Der aktive französische Begriff erinnert mich an das wild-flatternde rote Tuch der Marianne, die den Franzosen für Freiheit und Befreiung steht.

Nicht die „neuartige Krankheit“ ist es, die Angst und Schrecken verbreitet.

Was uns triggert sind die Bilder, die uns gezeigt wurden, die wir gesehen haben und die in unseren Köpfen und Herzen erzeugt wurden. Das atemlose Tempo, mit dem uns unsere Freiheitsrechte genommen werden, so dass nicht nur ich, sondern Millionen Menschen am 1. Mai nicht mehr ihre berechtigten Forderungen auf die Straße tragen und statt den Arbeiterliedern jammernd „You are not alone“ singen, obwohl sie zu Hause alleine oder vereint allein vor den „Online-Freunden“ sitzen.

 

„Das Netz ist jetzt die Straße“ sagt der DGB-Vorsitzende von Baden-Württemberg.

Wenn das Netz nun doch nicht die Straße ist?!

Wenn das Netz nun denen gehört, die dafür bezahlen, dass ihre Meinungen, die sie verkaufen, so penetrant vertrieben werden, dass man ihnen nur durch Abschalten entgehen kann?!

Wenn sich die Wirtschaftsministerin nun über das Mai-Motto „Mit Anstand Abstand halten“ freut, weil es die Straße ins Netz verbannt und so für die Wirtschaft beherrschbar wird?!

Wenn die Straße sich nun doch bewegt, aufpasst, sich einmischt, fordert, bereit ist Verantwortung zu tragen und zum roten Tuch wird für das Gestrige, das Überholte, das Unnütze und Hoffnung schafft für eine neue Welt, eine gute Zukunft, die möglich ist?!

Ja, Ihr Lieben, das Lied „Le Chiffon rouge“ hat mich damals wegen der Kraft der Menschen, die auf die Straße gegangen sind für ihre Arbeitsplätze und ihre Rechte, angesprochen.

1997 habe ich den Chorsatz für Avanti Comuna Kanti geschrieben. Wir haben das Lied immer etwas schneller gesungen als die Franzosen – eher in einer Art Marschrhythmus - "Hefte an Dein Herz einen Streifen roten Tuches“ ... - schade, davon habe ich keine Aufnahme.

Eine lebenswerte Welt ohne Hunger, Krieg und Ausbeutung von Menschen und Natur, eine gerechte Gesellschaft mit Bildung und Glück für alle Menschen, das geht vielleicht nur so wie es Konstantin Wecker heute in seinem Lied „Das Leben will lebendig sein“ gesungen hat: „Wer mit dem Leben tanzen will, muss ungehorsam sein und wer in Freiheit leben will, darf nie gehorsam sein“. 

 

Träume sind der erste Schritt –

nach dem ersten kommt der zweite Schritt …

 

Hoffnungsvolle Träume von einer schönen Zukunft

wünscht Euch ...

die als ungehorsames Kind so manches mal auf den Tuches gekriegt hat

P.S.: Das Lied erinnert uns immer auch an meine liebe Freundin Ruthi, von der wir die jiddische Bedeutung von „Tuches“ kannten – daran denkend haben wir oft miteinander gekichert.

 

Le Chiffon rouge

Accroche à ton cœur un morceau de chiffon rouge

Une fleur couleur de sang

Si tu veux vraiment que ça change et que ça bouge

Lève-toi car il est temps

 

Allons droit devant vers la lumière

En levant le poing et en serrant les dents

Nous réveillerons la terre entière

Et demain, nos matins chanteront

 

Compagnon de colère, compagnon de combat

Toi que l'on faisait taire, toi qui ne comptais pas

Tu vas pouvoir enfin le porter

Le chiffon rouge de la liberté

Car le monde sera ce que tu le feras

Plein d'amour de justice et de joie

 

Accroche à ton cœur un morceau de chiffon rouge

Une fleur couleur de sang

Si tu veux vraiment que ça change et que ça bouge

Lève-toi car il est temps

 

Tu crevais de faim dans ta misère

Tu vendais tes bras pour un morceau de pain

Mais ne crains plus rien, le jour se lève

Il fera bon vivre demain

 

Compagnon de colère, compagnon de combat

Toi que l'on faisait taire, toi qui ne comptais pas

Tu vas pouvoir enfin le porter

Le chiffon rouge de la liberté

Car le monde sera ce que tu le feras

Plein d'amour de justice et de joie.

Deutsche Übersetzung : Das Rote Tuch

Befestige an deinem Herzen ein Stück rotes Tuch,

Eine Blume von blutroter Farbe.

Willst du wirklich, dass sich etwas ändert und bewegt,

Dann steh' auf, es ist an der Zeit.

 

Geh'n wir voran, geradewegs zum Licht,

Mit erhobener Faust, die Zähne zusammengebissen.

Wir werden die Erde erwecken,

Und morgen, da werden unsere Morgen singen.

 

Genosse im Zorn, Kampfgenosse,

Du, den man zum Schweigen brachte, der nichts zählte,

Du wirst es endlich tragen können,

Das rote Tuch der Freiheit.

Denn die Welt wird das sein, was du aus ihr machst,

Voller Liebe, Gerechtigkeit und Freude.

 

Befestige an deinem Herzen ein Stück rotes Tuch,

Eine Blume von blutroter Farbe.

Willst du wirklich, dass sich etwas ändert und bewegt,

Dann steh' auf, es ist an der Zeit.

 

Du starbst an Hunger in deinem Elend,

Du verkauftest deine Arme für ein Stück Brot,

Doch hab' keine Angst mehr, der Tag bricht an,

Morgen wird er uns gut leben lassen.

 

Genosse im Zorn, Kampfgenosse,

Du, den man zum Schweigen brachte, der nichts zählte,

Du wirst es endlich tragen können,

Das rote Tuch der Freiheit.

Denn die Welt wird das sein, was du aus ihr machst,

Voller Liebe, Gerechtigkeit und Freude.

 

Deutsche Version wie ACK sie singt:

Hefte an Dein Herz

Einen Streifen roten Tuches,

eine Blume wie von Blut.

Wer begriffen hat,

dass es drängt, die Welt zu ändern,

der steh´ auf und fasse Mut!


Lasst uns vorwärts geh´n,

hinaus ins Freie,

bringt die Fäuste mit und viel Geduld dazu.

Unser neuer Tag,

er wird gedeihen,

unser Lied wird zerschneiden die Ruh´.

 

Teil mit uns Deinen Zorn,

hak den Arm bei uns ein,

nicht zum Schweigen verdammt,

nicht gekrümmt sollst Du sein.

Trag Deine Fahne, trau es Dir zu.

Hol Dir die Zukunft, die Zukunft bist Du:

Sorg dafür, dass die Welt nicht in Stücke zerfällt,

dass ein Menschengesicht sie erhält.

 

Hefte an Dein Herz

Einen Streifen roten Tuches,

eine Blume wie von Blut.

Wer begriffen hat,

dass es drängt, die Welt zu ändern,

der steh´ auf und fasse Mut!

 

Immer quält dich noch

So mancher Hunger,

Du bezahlst mit Deiner Würde

Noch das Brot,

doch verlass dich drauf,

das geht zu Ende,

da hilft keine Lüge, kein Verbot.

 

Teil mit uns Deinen Zorn,

hak den Arm bei uns ein,

nicht zum Schweigen verdammt,

nicht gekrümmt sollst Du sein.

Trag Deine Fahne, trau es Dir zu.

Hol Dir die Zukunft, die Zukunft bist Du:

Sorg dafür, dass die Welt nicht in Stücke zerfällt,

dass ein Menschengesicht sie erhält.