Statt-Abendlied 15


in die walpurgisnacht

Liebe Familie, liebe Freundinnen, liebe Freunde,
heute habe ich aufgeräumt - habe mich von Altem getrennt - Raum und Luft geschaffen.
Für den Tag am Übergang zwischen Winter und Frühling, der von Alters her auch den Übergang von Altem zu Neuem symbolisiert, passt das gut.
Ich trenne mich wirklich schwer und bewahre das Alte gerne, das mich erinnert an die Altvorderen, das Gewesene, das Vorangegangene, an Momente und Zeiten, die mir unwiederbringlich und bedeutsam zugleich scheinen. 

 

Zugleich habe ich da ja auch ein Pionierwesen in mir, das Neues gerne ergründet.
Beim Bewahren geht es meist mehr um das Verstehenwollen als um das Habenwollen.

 

Es geht mir um das Teilseinvon und das Anknüpfenan - Mich in einer Reihe sehen - ein Glied einer Kette.
Das Aufräumen hat mir auch die Zeit gegeben über die kommende Walpurgisnacht 2020 nachzudenken.
Wir sind am Übergang vom Winter in das Frühjahr hineingeworfen in eine Veränderung, die wir noch gar nicht absehen können und die wir uns auch weder vorgenommen noch gewünscht hatten.
So bin ich auf das heutige Musikstück gekommen, das der Komponist mit dem folgenden Motto überschrieben hat: "Denn es muß sich in der Weltgeschichte immerfort wiederholen, daß ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt, und wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde. Die Mittelzeit, wo der Haß noch gegenwirken kann und mag, ist hier prägnant genug dargestellt, und ein freudiger, unzerstörbarer Enthusiasmus lodert noch einmal in Glanz und Wahrheit hinauf."
Vielleicht kennt Ihr ja  die Ballade "Die Erste Walpurgisnacht" von Johann Wolfgang von Goethe oder Ihr habt Euch in der Schule mit der Walpurigisnacht im "Faust" befasst. Die alten keltischen Bräuche gelten als heidnisch und sollen den neuen Bräuchen des Christentums weichen. Die lebens- und gesundheitskundigen Frauen sollen der Macht der männlichen Gelehrten weichen und werden als Hexen verunglimpft, verfolgt und ermordet.

 

Neue Herrschaftsstrukturen entstehen im Mittelalter - erzeugt und gestützt durch Angstszenarien, tödliche Krankheiten und Seuchen, Unterdrückung und Verfolgung - die mittelalterlichen Kirchen ermöglichen und sicheren den neuen Herrschenden und sich selbst die Macht gegen das Vorangegangene und das scheinbar bedrohliche Andere von außen.
Auch wenn ich heute noch nicht verstehe, wie es zu der aktuellen Situation kommen konnte, welchen Sinn sie haben soll, für wen und wer davon profitiert, so spüre ich doch,

 

dass vieles nicht schlüssig erklärt wird,
vielleicht nicht einmal von den Verantwortlichen selbst verstanden wird,
dass die Einschränkung unserer demokratischen Rechte nicht meiner Vorstellung vom Zusammenleben in der Gesellschaft entspricht,
dass zwischen Jung und Alt keine Zwietracht gesät, sondern gegenseitige Wertschätzung und voneinander Lernen gelehrt werden sollte,
dass Angst und Schrecken ein Herrschaftsinstrument Grausamer ist, die anderes als das Wohl der Allgemeinheit im Sinn haben,
dass breiter Raum sein muss für die offene Diskussion gemeinsamer Werte und der Weiterentwicklung der Gesellschaft,
dass Technik dem Menschen zu dienen hat und nicht umgekehrt,
dass unabhängige Wissenschaft nicht "auf Sicht fährt", sondern nach Wahrheit und Entwicklung sucht und
dass die menschliche Gemeinschaft so entwickelt ist wie es sich an ihren "schwächsten Gliedern" zeigt.
Goethe, der sich in seiner Ballade mit einem solchen Umbruch befasst hat, beauftragte seinen Freund Carl Friedrich Zeller mit der Vertonung seiner Ballade, doch dieser gab auf. Zellers 12-jähriger Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy war der o.g. Komponist, der das Werk umsetzte und ihm das genannte Motto voranstellte.
Bevor Ihr das Werk hört, lohnt es sich, die Einführung von Verena Großkreutz, der Stuttgarter Kulturjournalistin, zu lesen. Hier nun "Die Erste Walpurgisnacht" vertont von Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem hr-Sinfonieorchester -  40 Minuten musikalischer Schönheit.
Ob Ihr nun im Geist auf den Blocksberg reist, um in die reinigenden Feuer zu sehen, zu tanzen und das Gestrige zu feiern oder schon voraus denkt an den morgigen 1. Mai denkt, den Feiertag der arbeitenden Menschen, an dem sie ihre Rechte verteidigen und ihre Forderungen aus die Straße tragen - ich wünsche Euch eine gute Nacht am Übergang - hoffentlich in einen "Wonnemonat".
Herzlich Eure beileibe noch nicht aufgeräumte …