Adventsabendlied 18: "Es hat sich halt eröffnet"


wisst Ihr welcher Tag heute ist?

Ja, der 18. Dezember. Seit 20 Jahren ist dies der von den Vereinten Nationen beschlossenen Internationale Tag der Migration.

Vor 30 Jahren hatte die UN- Vollversammlung die Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen angenommen. Vor zwei Jahren nahmen 164 der 194 Staaten der Erde den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration an.

Ein schweres Thema in schwerer Zeit, aber eines der Wichtigsten überhaupt –zentrales Menschheitsthema und ganz persönliches Thema eigentlich aller Menschen – wenn man genau hinsieht.

Dazu alpenländisches Adventslied mit ansteckender Fröhlichkeit und Leichtigkeit im Dialekt: „Es hat sich halt eröffnet“.

Beim Anhören kann ich mich leicht zurückversetzen in meine Kindertage: Purzelbäume schlagend, einen Wiesenhügel hinunterpurzelnd, juchzend, nicht mehr wissend, wo oben und wo unten ist - dieses wilde, ungestüme  und unbekümmerte Zwischen-Himmel-und-Erde-Sein war herrlich – „bald auf und bald unter, bald hin und bald her, bald untersche, bald übersche, das gfreut sie um so mehr.“ Vielleicht haben tatsächlich „Schwabenkinder“ dieses Weihnachtslied in ihrer Mundart gesungen dort im Ausland wo man sie früh als Kinder hingeschickt hat zum Arbeiten, weil es zu Hause nicht genug gab und weil sie eine Chance haben sollten im Leben – auch die Mädchen.

Der „Wanglermatthes“ - wie mein Urgroßvater genannt wurde  - und seine Margret auf der Schwäbischen Alb hatten zwei Söhne und vier Töchter. Auf dem anliegenden Foto im "Sonntagsstaat" steht links meine Großmutter väterlicherseits, Jg. 1883, von der ich Euch schon erzählt hatte – sie hat zeitlebens – „Tag und Nacht“, wie mein Vater sagte, für Leute genäht. Tante Maria, die neben ihr steht, kam zu einer „russischen Gnädigen“ in den Haushalt, die - als sie verarmte - Tante Maria mit Haushaltsgegenständen und Schmuckstücken entlohnte, von denen ich einen zierlichen Smaragd-Ohrring zur Konfirmation bekam, eine Cousine den anderen. „S´Margretle“ – sitzend – starb früh und Tante Katharina schickte man früh, als Kind zum Arbeiten ins Appenzeller Land in die Schweiz, wo sie später einen reisenden ungarischen Hemdenhändler heiratete, der mit ihr in Winterthur als Herrenausstatter sesshaft wurde. Über ihre Migrationsempfindungen ist den Briefen vor allem zwischen den Zeilen zu lesen. Die Sehnsucht nach den Schwestern blieb zeitlebens groß und bewirkte Reisen, die Menschen in der „Pendelmigration“ kennen.

Mein Urgroßvater mütterlicherseits verdiente als Schneider in Memel - der damals nördlichsten deutschen Stadt, die heute Klaipeda heißt und zu Litauen gehört - nicht genug, um sich ein Familienleben nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Als man die Kohlen in der Lausitz entdeckt hatte, macht er sich auf in die „Grube Henriette“ und wurde Bergmann bis er eine Lausitzer Gärtnerstochter in Finsterwalde ehelichte, mit der er elf Kinder bekam – darunter Frida, meine geliebte Oma mütterlicherseits - „Muttchen“.  Seinen Herkunftsdialekt und seine Kultur brachte er mit bis sich Sprache und gebräuche mit der Zeit mischten.

So war es auch, als meine Mutter „in den Westen“ ging und in Schwaben hängenblieb und ihre Mutter und Schwestern in Hamburg und der Vater „im Osten“ blieb – das Pendeln ging und geht weiter.

Sprach- und Kulturwurzeln sind weiter zu spüren und wenn sie gepflegt werden, setzen sie sich fort, trennen dann aber von der Mehrheitsgesellschaft, bei den Sichanpassenden, die man hier so schmerzhaft „Reig´schmeckte“ nannte, gehen sie mit den Generationen in denen der Mehrheitsgesellschaft auf.

Bisher habe ich nicht nur in den bewusst ihren Minderheitsstatus wahrenden Kulturen wie den katholischen Sorben in der Lausitz oder den deutschen Sinti erlebt, dass der Schutz der eigenen Kultur und Sprache im Abgrenzen und nicht Aufgeben liegt, sondern dass auch beides bewusst gelebt werden kann – nebeneinander, aber häufig nicht ohne Wehmut nach dem „Reinen“.

Wem gehört eigentlich die Welt? Wer darf wo wohnen? Wer darf bestimmen, wer wohin gehen und sich wo niederlassen kann?

Meine Herkunftsfamilie und die meines Mannes sind „Arbeitsmigranten“ – eine heutzutage nicht immer gern gesehene Spezies, die sich auf den Weg aus einer schwierigen Lebenssituation aufmacht in eine, in der es den eigenen Kindern besser gehen soll.

Die Heirat mit einem Partner aus der Mehrheitsgesellschaft scheint ein entscheidender Schlüssel zu Akzeptanz zu sein. Bleibt zu hoffen, dass die Familie die eingeheiratete Zugewanderte anerkennt und aufnimmt. Ich war nicht das einzige  junge Mädchen, das genau wusste, wen es „nicht mit nach Hause bringen“ durfte.

Ist es Zufall, dass Sabine, meine beste Schulfreundin wurde, als sie neu in die Klasse kam und ich hörte, dass sie ihre Familie aus Senftenberg – wenig mehr als 30 km von Finsterwalde entfernt  - stammt?

Ist es Zufall, dass ich mich in der Familie meines künftigen Mannes sofort wohl fühlte, dessen Vater seine Wurzeln in Görlitz und Guben hatte?

Ist es ein Zufall, dass meine geliebte Kinderfreundin Birgit und ich ähnliche Eltern hatten mit ähnlichem Hintergrund?

Ist es Zufall, dass unser Sohn Weihnachten bei der Familie seiner Frau im Zittauer Gebirge verbringen wird, wo sich „Pendeln“ der Familie bis zu unserem Enkelkind fortsetzt?

Nicht immer war ich dankbar für die Migrationsgeschichte meiner Familie. Vor allem in der Schulzeit unter Untertürkheimer Wengerterstöchtern fühlte ich mich manchmal ungut exotisch. Später grenzte ich mich abwechselnd bewusst ab oder passte mich bewusst deutlich an – noch ein „Pendeln“.

Wie mag sich das erst für Sanela, das erste Mädchen aus Jugoslawien in meiner zweiten Grundschulklasse angefühlt haben oder für Elisabeth Vournelis, deren griechischer Vater eine Gaststätte übernahm, in der damals aber nur „Gastarbeiter“ verkehrten? Die ersten „Migrantenkinder“, die ich in meiner Schulzeit erlebte.

Als fünfzehnjährige engagierte ich mich dann in der kirchliche Hausaufgaben- und Sprachhilfe für „Ausländerkinder“ und lernte im Gemeindehaus mit Kindern, deren Eltern aus Italien oder aus Jugoslawien nach Stuttgart zum Arbeiten gekommen waren, um genügend zu verdienen, damit die Kinder es einmal besser hätten.

Ich kann mich noch gut an einige der Kinder erinnern, treffe manchmal welche von ihnen und freue mich an ihren Erfolgen. Ich fühlte mich diesen Kindern immer verbunden, wie ich mich den Kindern in der Schule, die eine zweite Heimat mit sich trugen, immer zugeneigt fühlte.

Ist es nicht ein wunderbares Glück, dass wir Menschen auf der Erde überall miteinander verbunden sind – gemeinsame Ahnen und gemeinsame Wurzeln haben? Seit mehr als 7500 Generationen besiedeln Menschen die Erde und suche dabei immer nach einem Platz, an dem sie ihre Kinder ernähren, gut aufziehen und ihnen ein „besseres Leben“ ermöglichen können.

Die Migration ist also eine Menschenaufgabe, die der Mensch sich selbst und die ihm die Natur aufgegeben hat.

Eine Aufgabe, die ihn bisweilen zwingt, den angestammten Platz zu verlassen, wie sie es den 269 Einwohnern der Atolle der Malediven, den 58 000 Einwohnern der Marshall-Inseln und der 900 Einwohnern von Tuvalu im Pazifischen Ozean aufgrund des Meeresanstiegs als Folge der menschgemachten Klimaerwärmung droht.

Oder wie der Hunger manche der 800 Millionen chronisch hungernden Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, weil sie nicht zu den täglich etwa 24 000 menschengemachten Hungertoten der Erde gehören wollen.

Wie viele Eltern der 420 Millionen Kinder, die derzeit auf der Welt unter Krieg und Verfolgung leiden, schaffen es, Ihre Kinder durch Migration zu retten und ihnen ein gesundes Leben mit ausreichend  Nahrung, Kleidung und Bildung zu ermöglichen?

Durch die Geschichte von Yassine aus Marokko, den wir 2015 – damals noch unter anderem Namen – aufnahmen und der heute selbstständig mit seiner Freundin in Göppingen lebt, bekamen wir eine kleine Ahnung von der Not von Müttern, deren Kinder im Ausland versuchen, die Familie „über Wasser zu halten“ und dafür ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Seelenheil riskieren.

Höchstens Berichte von Hilfsorganisationen geben Menschen ein Gesicht, die von Politik und Presse unter Begriffen wie „Flüchtlingskrise“ oder Flüchtlingswelle“ als bedrohliche Gefahr wahrgenommen werden, vor der man sich selbst, sein „Hab und Gut“ und „sein Land“ schützen müsse.

Sein Land. Wessen Land? Unsere Erde!

Was gibt Menschen das Recht, andere Menschen schlechter zu behandeln als die Haustiere, die sie halten – „in Gefangenschaft halten“ wie mein Schwiegervater zu sagen pflegte.

Meine Familienmigrationsgeschichte klingt so klein dieser Menschheitsfrage gegenüber und das ist sie auch. Für mich jedoch ist sie bedeutsam, für meine Seele, für mein Michzugehörigfühlen und meine Haltung.

Die Welt ist auch klein und sie wird immer dann noch ein wenig kleiner, wenn man Gemeinsamkeiten sucht und Unterschiede spannend beobachtet. Zugleich wird sie dadurch großartiger und einzigartiger.

Wenn wir uns gewahr werden, dass die Erde uns allen gegeben ist und dass sie genug für alle hat, dann ist können wir Verantwortung übernehmen für unser Handeln und nach Gerechtigkeit streben – nach einer Gerechtigkeit, die Nachteile ausgleicht und das Wohl aller voranstellt – nicht nur der Menschen, sondern der gesamten Natur.

In unserem Lied verschwinden die Bubele und die Madele  auf einen Wink eines „armen Seelches“ aus dem Himmel wieder in diesen. Weg sind sie und das fröhliche Treiben hat ein Ende, aber es bleibt in froher Erinnerung: Der Himmel hat sich geöffnet und eine Schar übermütiger, munterer Gratulantinnen und Gratulanten kamen auf zum Kindlein im Stall auf die Erde und weckten eine Sehnsucht nach kindlich-unbekümmerten Spiel und Freude am Miteinander.

Wie weit wohl die Kraft dieses Liedes reicht?  

Für heute war es mir ein weiterer Anstoß zum Nachdenken über das Leben und die dem Dieweltverstehenwollen ohne daran zu verzweifeln, sondern im Michalsteildarinfinden zu orientieren und ich habe an Euch gedacht und die Geschichten von Migration gestern und heute, von denen Ihr erzählen könnt. 

Für Eure und meine Träume wünsche ich ein lustvolles Kinder-Kugele-Gefühl der Leichtigkeit und Freude, das Sehnsucht weckt nach einer fröhlichen Kindheit für alle Kinder – ein zentraler Weihnachtsgedanke.