Mein Schulrat

„Wer Dich kannte, weiß was wir verloren haben“ steht in der Zeitungsanzeige.

 

Ich kannte Herrn Schulrat K. seit Beginn meines Lehrerlebens. Gleich nach dem Referendariat bekam ich zum Schuljahr 1985/86 eine Stelle angeboten. Zunächst sollte ich nach W. kommen, doch nur wenige Tage vor Ende der Sommerferien teilte Herr Kuhnle mir mit, dass die Hauptschule in G. mich wegen meines Hauptfachs brauche. Als ich dann nach einiger Zeit die erste Beurteilung durch den zuständigen Schulrat erhalten sollte, war ich natürlich aufgeregt, doch anschließend umso erfreuter, als ich meine ausführlich und gründlich vorbereitete Deutschstunde durch meinen Schulrat, Herrn K., gewertschätzt sah, der verstanden hatte, was ich mit meinem Unterricht erreichen wollte. Alles, was noch nicht so geklappt hatte, wurde mit nicht negativ angekreidet – vielmehr machte Herr K. mir den Mut, weiter meinen Weg zu gehen, eine gute Lehrerin zu werden. Ich fühlte mich durch ihn angespornt, mein Bestes zu geben.

 

Für die Überprüfung im Fach Musik wollte Herr K. seine Musik-Kollegin schicken. Auch für diesen Unterricht gab ich mir alle Mühe, eine kreative Musikstunde zu gestalten. Ich nahm an, dass ich nach der Stunde mit dieser Schulrätin ebenso wie mit Herrn K. auf fachlicher Ebene diskutieren und mich daran entwickeln könnte, was in der Tat vermessen war. So habe ich mir erlaubt, der Musikschulrätin an einem Punkt fachlich zu widersprechen, worauf sie sich laut empörte:“ Eine solch impertinente und aufsässige Person ist mir noch nie untergekommen.“  Ich war völlig perplex, denn das hatte ich keineswegs beabsichtigt. Ich wollte mit ihr gerne die Ansätze besprechen für einem  Musikunterricht, in dem sich jedes Kind entsprechend seiner Kenntnisse und Fähigkeiten  einbringen kann.

Nach einige Zeit teilte mir Herr K. mit, dass er den Bericht seiner Kollegin in meiner Gesamtbeurteilung nicht berücksichtigen werde. Das war für mich ein ungeheurer Vorgang, von dem ich nie geglaubt hätte, dass das möglich war. Vermutlich hatten die Kollegin und Herr K. unterschiedliche Vorstellungen von gutem Unterricht und der Begleitung junge Lehrkräfte in ihrem ersten Dienstjahr. Herr K. lehrte mich stets durch sein Vorbild, engagierten Einsatz zu schätzen und durch positive Verstärkung Menschen herauszufordern, Ihr Bestes zu geben – ein Geschenk für´s ganze Leben, für das ich dankbar bin.

Jahre später - nachdem wir uns oft dienstlich begegnet waren, er immer wertschätzend und freundlich und ich mit viel Respekt für meinen Schulrat, dessen Meinung mir sehr wichtig war, lud ich ihn ein, an der Präsentation des Japan-Projekts meiner neunten Hauptschulklasse in G. teilzunehmen. Herr K. wusste dass ich projektorientiert in all meinen Fächern mit meiner Klasse arbeitete. Ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass der viel beschäftigte Schulrat tatsächlich kommen würde, aber es war mir wichtig ihn einzuladen.

Wie erstaunt war ich, als die Tür aufging und Herr K. herein kam  - dazu noch den Arm voller Präsente für meine Klasse! Der Fußballclub, bei dem Herr K. sich ehrenamtlich engagierte, hatten zu dieser Zeit offenbar einen Spieler aus Japan engagiert und dessen Gastgeschenke brachte er nun meiner Klasse mit in den Unterricht. Wir waren alle sehr gerührt. Jede Gruppe gab ihr Bestes, Herrn K. die Ergebnisse ihres Projekts zu zeigen und für die weiteren Besucherinnen und Besucher des Projekttages stand nun auch die Präsente von Herrn K. mit auf den Tischen. Wie interessiert er sich Zeit nahm, war wirklich besonders.

Als unser Schulleiter ausfiel und ich wohl die Dienstälteste in der Hauptschule war, bat mich Herr K., die Konrektorin in ihren Aufgaben zu unterstützen. Von da an nahm ich viele neue Aufgaben wahr und lernte die Arbeit der Schulleitung kennen. Neben all den schönen und interessanten Aufgaben kamen auch schwere, bei denen Herr K. immer hilfreich an unserer Seite war, auch als auf einer Klassenfahrt ein Schüler bei einer Bergwanderung tödlich verunglückte.

 

Herr K. unterstützte mich stets in meinem Bestreben, zu zeigen dass Migration kein Problem, sondern eine bereichernde Vielfalt darstellt und dass es an uns liegt, den Menschen Bildung nahezubringen. Ich hatte einen hochmusikalischen, italienischen Jungen, der die Notenvoraussetzungen für den „W-Zug“ nicht erfüllte, aber dessen künftiges Musikstudium ich unbedingt fördern wollte. Mein Schulleiter sah keine Lösung, da ging ich zu Herrn K. in der Hoffnung auf seinen Rat. Herr K. sah das pragmatisch, denn er hatte selbst Erfahrung mit einem künstlerisch begabten Schüler gemacht: „Nehmen Sie ihn in Ihre (W-Zug)-Klasse“ ordnete er an und ab diesem Moment blühte der Junge auf. Bis zum Ende der 10. Klasse hatte er sich nicht nur musikalisch, sondern in allen Fächern so gesteigert, dass er bis zum Studienbeginn das Wirtschaftsgymnasium besuchen konnte. Dieser Schüler – ältestes Kind einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern -  ist heute sowohl geschäftlich als musikalisch sehr erfolgreich. Ich konnte die gesamte Familie begleiten. Seine Schwester wurde … Lehrerin! Herr K. war mir immer Vorbild und auch wenn ich manchmal ungewöhnliche Wege ging, fand ich immer seine Unterstützung. Das war ein großes Glück für mich.

Als die Stelle der Schulleiterin in O. ausgeschrieben wurde, ermutigte mich Herr K., mich auf diese Stelle zu bewerben. Wieder war seine Begleitung stets hilfreich und auch in O. blieb Herr K. mein Schulrat, der mir vertraut und wichtig war, mit dem ich mich beraten und den ich alles fragen konnte, der meine Arbeit schätzte und den ich sehr schätzte.

 

Eines späten Nachmittags kam ein Lehrer der Abendrealschule zu mir ins Rektorat und erklärte, er habe das historische Quecksilberthermometer zerbrochen im Papierkorb im Physiksaal entdeckt, das sei gefährlich. Ich rief die Giftnotzentrale an und ließ mich beraten. Dann telefonierte ich mit der Fachlehrerin, die eigentlich für Sport und Technik zuständig war, aber die aus Mangel an Physik -Fachkräften den Physikunterricht in der Hauptschule übernommen hatte und bat sie und die beiden Schüler, mit denen sie das Quecksilber weggeputzt hatte, sich vorsorglich im Krankenhaus untersuchen zu lassen. Ausgerechnet in dieser Woche wurde in der Stadt die Notrufzentrale aller drei Hilfsdienste zusammengefasst. Vermutlich ein übereifriger Feuerwehrmann veranlasste nun das folgende Szenario: Um die Schule standen im Nu mindestens 10 Krankenwagen, obwohl alle Kinder längst zu Hause waren und es dunkel wurde. Ein Feuerwehrmann wurde in einer Art Raumanzug verpackt, um den Physiksaal zu inspizieren, während ein kleingewachsener Feuerwehrkommandant sich vor mir aufbaute und die Adressen der Kinder verlangte, die er alle abholen und ins Krankenhaus bringen lassen wollte. Obwohl ich argumentierte, dass die Klasse gar nicht im Raum gewesen war, sondern nur zwei Schüler und die Lehrerin, die bereits untersucht waren, verlangte er immer heftiger mit der Drohung, diese von der Polizei einholen zu lassen, nach den Schüleradressen. „Da muss ich erst meinen Schulrat auf dem Schulamt fragen“, sagte ich in meiner Not und ohne Hoffnung, zu dieser Zeit noch jemanden im Schulamt anzutreffen. Doch – am Telefon war sofort Herr K., erfasste die Situation und war kurze Zeit danach vor Ort, um dem Feuerwehrkommandanten seine Grenzen zu zeigen – beeindruckend ruhig und klar – was für eine weitere Lektion.

 

In all den Jahren, in denen ich im Schuldienst war, spürte ich stets die Unterstützung von Herrn K. darin, mich für die Belange der Kinder und Jugendlichen einzusetzen und ihnen die bestmögliche Bildung angedeihen zu lassen. Wenn ich zu den jährlichen Gesprächen um die Ressourcen zur Personalschulrätin kam, saß auch Herr K. mit im Büro von Frau X und erklärte ihr, warum meine Schule für besondere Projekte die ein oder andere Mehrstunde brauchte.

 

Auch als ich die Schule verließ, um ein Bildungszentrum aufzubauen, freute ich mich, dass Herr K. meine Einladungen annahm und weiterhin beruflich mit mir verbunden war. In meiner späteren Tätigkeit als Schulrätin konnte ich oftmals das Zutrauen in engagierte Lehrinnen und Lehrer, das ich von Herrn K. erfahren hatte, weitergeben und auch in herausfordernden Situationen klar und menschlich handeln.

 

Mit Jahresbeginn habe ich nach 15 Jahren mein Ehrenamt als Jugendschöffin beendet. Mir hat nie jemand gesagt, wer mich zu diesem Ehrenamt empfohlen hat, aber ich habe immer vermutet, dass Herr K. es war, der mir diese Aufgabe zugetraut (und zugemutet) hat.

 

Ich sehe noch genau sein freundliches Lächeln und seine ausgestreckte Hand, wenn wir uns trafen. Herr K. war für mich ein Glück in meiner beruflichen Zeit und ein Vorbild weit darüber hinaus im Menschlichen.

Sie haben es in der Anzeige so treffend ausgedrückt.

 

Ja, mit Herrn K. bin auch ich geworden, was ich bin. Er hat auch mich und sicherlich viele andere Kolleginnen und Kollegen geprägt. Seine Spuren sind und bleiben auch in uns.

8. März 2024